Darabos, Enikő (2018) VORSTELLUNGEN ÜBER SEXUALETHIK UND -PRAXIS DES NEUEN MENSCHEN : Experimente und Auseinandersetzungen. In: Der „neue Mensch“ und das politische Imaginäre in Mitteleuropa 1918/1919: Philosophie, Humanwissenschaften, Literatur, 24.02.2017., Bécs.
|
Text
Der Neue Mensch_ED_175-198.pdf Download (309kB) | Preview |
Abstract
Der Schock des ersten Weltkrieges generierte unmittelbar in der Nachkriegszeit in Zentral- und Osteuropa Ansätze zur Ausarbeitung neuer politischer Lösungen zur Entspannung der Klassengegensätze zwischen Bürgertum und Arbeiterklasse. Dominierte die materielle Besserstellung die neue Mensch-Ideen vor dem Krieg („Paradies auf Erden“), traten nun ethische-biopolitische Aspekte in den Vordergrund. Ich fand daher die Untersuchung maßgebender sexualethischer Argumentationsstränge für angebracht, die charakteristisch waren für die gesellschaftsphilosophische, frauenrechtliche – selbst gynäkologische –, d.h. biopolitische Auseinandersetzungen der 1920er und 1930er Jahre. In Anlehnung an frühe Schriften von August Bebel und sie weiterentwickelnd entstanden ganze sexualethische Lebenswerke, wie das der finnisch-russischen Alexandra Kollontai, oder das der Wienerin Elfriede Friedländer, die sich als Schriftstellerin Ruth Fischer nannte und ihre bekannteste Arbeit rundheraus als Sexualethik des Kommunismus betitelte. In der Weimarer Republik begannen Aktivisten und Aktivistinnen unter dem Oberbegriff der neuen Sachlichkeit die radikale Neuorganisation des Verhältnisses der beiden Geschlechter, und konstruierten zur neuen Frau passend den neuen Mann. Die dabei entstandenen Gebrauchsanweisungen für das gesunde Sexualleben waren indes nicht nur im biologischen Sinne lebensfremd, sondern erwiesen sich auch gesellschaftspolitisch als kurzlebig. Kein Wunder, dass selbst in den Reihen der neuen sowjetischen Führungsschicht, unter den Studierenden und den Absolventinnen der Universitäten und Hochschulen, die anfangs recht unbefangen experimentieren konnten, bald eine heillose Verwirrung herrschte. Nach der Niederschlagung der Ungarischen Räterepublik im August 1919 flohen die meisten Linksintellektuellen ins Ausland, um der Vergeltung zu entkommen. Ihre im Exil entstandenen, in wenigen Exemplaren erschienenen Werke standen in Ungarn selbstverständlich auf dem Index. Daher konnte im Land selbst nur die sozialdemokratisch organisierte Ärzteschaft die Aufklärungsarbeit fortsetzen. Unter den in der Zwischenkriegszeit erschienenen Schriften sind die Publikationen des Frauenarztes Béla Totis am interessantesten. Seine neue Mensch-Idee war auf die einigermaßen gebildete, organisierte Arbeiterschaft zugeschnitten, für die das Recht des eigenen Körpers – in erster Linie auf Genuss und auf Befriedigung – den Ausgangspunkt aller biopolitischen Überlegungen bilden sollte. Es muss kaum betont werden, dass seine Ansichten sowohl seitens der auf Lustverdrängung und Züchtigung der körperlichen Begierde insistierende klerikale Kritik aufs Entschiedenste abgelehnt wurden, als auch seitens der bornierten Kommunisten. Selbst der bedeutendste Dichter der Zwischenkriegszeit, der hochgebildete, sexualpsychologisch bewanderte Attila József kritisierte Totis wegen dessen angeblicher Verherrlichung bourgeoiser Verhaltensmuster für die Arbeiterschaft.
Actions (login required)
 |
Edit Item |
